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HV-Fahrzeuge richtig abschleppen: Was ist zu beachten?

Die Redaktion hat mit Frank Oberste-Berghaus vom Verband der Bergungs- und Abschleppunternehmen e.V. (VBA) gesprochen und die wichtigsten Regeln beim Umgang mit verunfallten HV-Fahrzeuge erfragt.
Qualifizierung erforderlich: Die ‚Elektrotechnische Unterweisung’ ist die Minimalanforderung für Abschleppfachkräfte, wenn sie bei einem HV-Fahrzeug zum Einsatz gerufen werden. Bild: ADAC

Wenn HV-Fahrzeuge liegen bleiben oder in einen Unfall verwickelt werden, müssen hinzugerufene Abschleppdienste genau wissen, was für den Ernstfall zu beachten ist. Auch Werkstätten, die einen solchen Service anbieten, sollten auf diese Fahrzeugtypen vorbereitet sein.

Für den Ernstfall, dass ein HV-Fahrzeug transportiert oder abgeschleppt werden soll, hat der Verband der Automobilindustrie (VDA) mit Unterstützung des VBA als Informationsgrundlage ein Download-PDF veröffentlicht. Dieses klärt die häufig gestellten Fragen (FAQs) zum Thema ‚Unfallhilfe & Bergen bei Fahrzeugen mit Hochvolt-Systemen’ und beschreibt die potenzielle Gefährdung, die von HV-Komponenten und -Energiespeichern ausgeht.

Nicht jeder darf ran

Genau wie in der Werkstatt gilt auch für Unfall- oder Pannensituationen: An HV-Fahrzeuge darf nicht jeder ran. Notwendiges Grundlagenwissen erlernt das Abschlepppersonal bei der Elektrotechnischen Unterweisung. Elektrotechnisch unterwiesene Personen dürfen aber eigenverantwortlich keine Arbeiten an elektrischen Anlagen oder Betriebsmitteln ausführen – wozu auch das Überprüfen der Spannungsfreiheit zählt. Wann genau beim Abschleppen oder Transportieren von HV-Fahrzeugen ein HV-Fachkundiger, der eine entsprechende elektrotechnische Schulung absolviert hat, hinzugezogen werden muss, hat KRAFTHAND bei Frank Oberste-Berghaus, verantwortlich beim VBA für den Schulungsbereich, das Sachverständigenwesen und die Technische Akademie Bergen und Abschleppen (TEBA), erfragt.

Herr Oberste-Berghaus, braucht es für das Abschleppen von HV-Fahrzeugen spezielle Abschleppfahrzeuge?

Nein, für das Abschleppen oder Transportieren von Hybrid- oder Elektrofahrzeugen braucht es keine speziellen Fahrzeuge. Das Verladen eines Fahrzeugs mit HV-System auf einen Lkw für Fahrzeugbeförderung ist mittels Ladekran oder anderen technischen Hilfsmitteln wie beispielsweise einem Radroller immer möglich. Auch das Abschleppen eines Kraftfahrzeugs mit HV-System mit einem Abschleppwagen ist mit technischen Hilfsmitteln realisierbar.

Was sind die grundsätzlichen Dinge, die man beim Abschleppen von HV-Fahrzeugen beachten muss?

Grundsätzlich sind die Hinweise der Hersteller beim Abschleppen oder Transportieren von liegengebliebenen oder verunfallten HV-Fahrzeugen zu beachten. Unter anderem sind nationale Vorschriften beziehungsweise Normen wie BGI 8686, BGI 800, BGI 8664 und BGI 5065, wenn es nötig wird, anzuwenden.

Und wie unterscheiden sich die Maßnahmen bei einem liegengebliebenen gegenüber einem verunfallten Fahrzeug?

Beim einem liegengebliebenen HV-Fahrzeug spricht man häufig von einer Panne. Kann diese vor Ort nicht behoben und muss abgeschleppt werden, sind die erlaubten Abschleppmöglichkeiten der Hersteller großzügiger ausgelegt. Das heißt, man kann das HV-Fahrzeug entweder verladen oder in der Hubbrille eines Abschleppwagens mit technischen Hilfsmitteln abschleppen.

Bei verunfallten HV-Fahrzeugen, die Beschädigungen an Karosserie, Fahrwerk, Lenkung oder dem HV-System et cetera aufweisen, schreiben die meisten Hersteller einen Transport vor. Denn beim Abschleppen in der Hubbrille, mit einem Abschleppseil oder einer Abschleppstange kann es zu Schäden am Elektro- beziehungsweise Hybridsystem und darüber hinaus zu einer elektrischen Gefährdung kommen, wenn die Antriebsachse auf der Straße verbleibt. Vor dem Verladen sollte das HV-System deaktiviert und von einem Fachkundigen auf Spannungsfreiheit geprüft werden. Hinweise dazu sind der Betriebsanleitung beziehungsweise dem Rettungsdatenblatt  zu entnehmen. (Anm. d. Red.: Die Rettungskarte sollte sich im Auto unter der Sonnenblende befinden.)

Frank Oberste-Berghaus: „Vor dem Verladen sollte das HV-System deaktiviert werden.“ Bild: VBA

Zum Verladen von stark beschädigten Fahrzeugen braucht es also eine HV-Fachkraft. Wann genügt dann die sogenannte elektrotechnische Unterweisung des Abschlepppersonals?

Eine Weiterbildung zur Elektrotechnisch unterwiesenen Person – kurz EuP – ist quasi die Mindestanforderung an alle Pannen- und Unfallhelfer, die ein HV-Fahrzeug abschleppen oder transportieren möchten. Wenn darüber hinaus an der elektrischen Hochvoltanlage gearbeitet und diese deaktiviert werden soll, ist grundsätzlich eine Qualifizierung zum Fachkundigen für Hochvoltsysteme in Kraftfahrzeugen notwendig. Zum Teil verlangen Auftraggeber wie Versicherungen oder Automobilclubs diese höhere Qualifikation, selbst wenn ein HV-Fahrzeug ‚nur’ abgeschleppt werden soll.

Zurück zum Einsatzort: Wann genau muss die Abschleppfachkraft prüfen, ob das Fahrzeug freigeschaltet beziehungsweise spannungsfrei ist?

Dies muss sie nur prüfen, wenn das Auto stark beschädigt wurde. Die meisten eigensicheren HV-Systeme in Kraftfahrzeugen werden bei einem Unfall durch Auslösen des Airbags oder Gurtstraffer automatisch deaktiviert. Ist es von außen nicht erkennbar, ob sich das HV-System automatisch ausgeschaltet hat – beispielsweise wenn ein geparktes Fahrzeug in einen Standcrash verwickelt wurde, ist es manuell zu deaktivieren, indem man den Service- beziehungsweise den Wartungsstecker abzieht oder eine entsprechende Sicherung entfernt.
Hierbei ist unbedingt die vorgeschriebene Schutzkleidung zu tragen. Ist bei einem schweren Unfall das Fahrzeug stark deformiert und sind HV-Komponenten erkennbar beschädigt, darf die EuP nicht weiterarbeiten, sondern muss eine HV-Fachkraft hinzuziehen, die dann die Spannungsfreiheit überprüft.

Kann auch die HV-Fachkraft an ihre Grenzen kommen?

Ja, zum Beispiel dann, wenn durch Fehlfunktion das HV-System nicht abgeschaltet werden kann. Da sich in diesen Fällen nicht sicher feststellen lässt, ob die Anlage Spannungsfrei ist, dürfen hier nur Fachkräfte ran, die aufgrund ihrer Qualifikation auch elektrotechnische Arbeiten unter Spannung – sprich bei nicht freigeschaltenem HV-System –  ausführen dürfen. Diese müssen sich dann mit Elektrikerhandschuhen, Visier (Gesichtsschutz) und weiteren Maßnahmen vor Lichtbogen- und Stromschlag schützen. Jedoch betrifft dies Rettungskräfte von Feuerwehr und THW, die in der Regel vor Abschleppdiensten an verunglückten Fahrzeugen tätig werden, sodass der Mitarbeiter des Abschlepp-/Bergungsunternehmens dann ein spannungsfreies Fahrzeug übernehmen kann.

Gibt es für den Umgang mit HV-Fahrzeugen spezielle Schulungen für Abschleppunternehmen?

Spezielle Schulungen für Pannen-, Bergungs- und Abschleppdienste bietet der Verband der Bergungs- und Abschleppunternehmen (VBA) mit seiner Technischen Akademie Bergen und Abschleppen (TABA) in Wuppertal an. Das Seminar ‚Kraftfahrzeuge mit Hochvoltsystemen sicher bergen und abschleppen’ bietet dazu die Möglichkeit, sich zur Elektrotechnisch unterwiesen Person mit anerkannter Bescheinigung weiterzubilden.

Herr Oberste-Berghaus, vielen Dank!

Das Interview führte Beate Dreher.

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